Reportage: Der Berg auf Talfahrt

Reportage: Der Berg auf Talfahrt

Reportage, Fotos und Interviews von: Mandy Privenau

Die fortschreitende Gentrifizierung des Stadtteils St. Pauli ist unbestreitbar. Hamburg kämpft hart – sowohl darum eine Weltstadt zu sein als zur gleichen Zeit auch den traditionsbewussten Dorfcharakter zu bewahren. Allein während des kurzen Betrachtungszeitraums von nur 10 Jahren hat sich vieles verändert.

Der Hamburger Berg bildet das Herzstück von St. Pauli.

 

„Ehemalige Schmuddelquartiere werden schick und teuer.“

Wer auf St. Pauli geboren und mit dem Wandel in den Straßen groß geworden ist, dem fällt kaum auf, wierasant sich dieser Stadtteil verändert.
In Hamburg leben heute rund 70.000 Menschen mehr als noch vor gut zehn Jahren. Zu- und Neubau können bei diesem rasanten Wachstum mit rund 3.000 Wohnungen pro Jahr nur schwer mithalten. Einstige Schmud- delquartiere und Arbeiterviertel sind schick und teuer geworden.

Die Gentrifizierung beginnt meist in den Vierteln der bunten Vögel und kreativen Menschen. Sie lassen sich in Gebieten mit günstigen Studios und Mieten nieder, wo niemand sonst leben möchte. Im Laufe der Zeit gewinnen diese Viertel durch persönliche Erfolgsgeschichten oder Junggründer an Attraktivität, wodurch die Mieten steigen. In der Folge werden die ursprünglichen Bewohner verdrängt. In anderen Vierteln startet die Gentrifizierung derweil wieder von vorn.

Ronan Harris (51 J.), gebürtiger Ire, Gründer des Future-Pop und Frontmann der Band VNV Nation, lebt seit 17 Jahren in Hamburg. Zuvor wohnte er bereits unter anderem in Toronto, New York, Salzburg und London.

Er hat einen kritischen Blick auf den sozioökonomischen Strukturwandel, der früher oder später, viele Groß- städte ereilt. „In den letzten 10 Jahren sind viele neue, große Gebäude hinzugekommen und ehemaligen Geheimspots haben eine starke negative Entwicklung erfahren. Sehr viele Menschen sind in nur wenigen Jahren nach Hamburg gezogen.“

Anja Mensch (34 J.), Tätowiererin in der Ältesten Tätowierstube Deutschlands, lebt seit mehr als 11 Jahren direkt auf St. Pauli und verlässt ihren Kiez nahezu nie. Im kleinen Umkreis findet sich alles, was sie zum Lebenbraucht.

Aus ihrer Sicht gibt es die alteingesessenen St. Paulianer noch immer, aber diese würden sich mittlerweile nicht mehr so wohl fühlen wie früher – eher überrannt von „Szeneleuten“, die es interessant finden hier eine Weile zu wohnen und dann wieder gehen. „Ich glaube da ist auch viel Kritik seitens der St. Paulianer die es nicht gern sehen, wie ihr Viertel verkommt. Wenngleich es durch Tourismus und den Einzug der Jugend Zu- spruch erfährt und belebter wird.“

Ein Dorf in Mitten der Großstadt

Anja Mensch (34 J., Tätowiererin) liebt St. Pauli und akzeptiert den Wandel.

 

Früher, berichtet Ronan, machten die Läden am Wochenende ab 13 Uhr zu. Es fühlte sich an, als würde eine Großstadt wirklich hart daran arbeiten, weiterhin wie ein Dorf zu funktionieren.

Hamburg war schon immer – und ist nach wie vor – eine Stadt in der einfach jeder, egal welcher Kultur, gleichgestellt ist. „Die Stadt umarmt ihre Gäste und wusste schon immer, wie man mit diesem Mix verschie- dener Menschen aus aller Welt umgehen muss“, erzählt der gebürtige Ire.
Diese Fähigkeit hat Hamburg bereits seit dem Zweiten Weltkrieg, nach dem viele Händler über den Seeweg kamen, Hamburg kennenlernten und am Ende blieben.

Auch Anja empfindet Hamburg im Vergleich zu Berlin, wo sie aufgewachsen ist, als viel offener und toleranter. Berlin ist ihrer Erfahrung nach sehr viel anonymer. Beide Künstler erkennen die Bemühungen der Stadt und der Bewohner den Stadtteil weiterhin mit dörflichem Charme und Liebe zu füllen.

„Die Stadt umarmt ihre Gäste. Hier ist wirklich jeder willkommen!“

Die Unterstützung und Integrität, die der Kiez schon immer bot, wird weiterhin von der Gemeinschaft gelebt. Anja findet auch, dass der Dorfcharakter im Viertel sehr oft spürbar ist. Sie hat lange in Berlin gelebt und dort kennt wegen der hohen Anonymität praktisch niemand seinen Nachbarn. In Hamburg hingegen seider solidarische Gedanke, den St. Pauli geschichtlich bedingt schon immer lebte, weiterhin präsent.

Menschen, die hier wohnen und arbeiten, haben ein großes Interesse am Erhalt des Hamburger Bergs. „Man kennt sich einfach. Der Mann am Kiosk legt dir deine Zigaretten hin bevor du gefragt hast – einfach, weil er weiß welche Marke du rauchst.“ schildert Anja.

Nachdenklich blickt Ronan Harris (51 J., Sänger) auf die Entwicklung St. Paulis.

 

Ein Leben zwischen Tradition und Moderne

Mittlerweile sieht es ganz anders aus als vor 10 Jahren. Traditionelle kleine Geschäfte sucht man auf dem Hamburger Berg – wie der Stadtteil St. Pauli bis 1833 hieß – nahezu vergebens.
„Seit Beginn der 2000er steigen die Mieten überall an und die kleinen Traditions-Läden haben es immer schwerer zu bestehen“, äußert der Vielgereiste Ronan nachdenklich. Früher gab überall einen privaten Flei-scher oder Bäcker.

Auch nach Anjas Einschätzung ist und wird der gesamte Kiez immer kommerzieller. „Irgendwann sieht man nur noch an den leerstehenden Häusern was hier mal war – aber das ist nun mal der Lauf der Dinge.“ Ronan entgegnet, dass in den letzten Jahren viele Wohnanlagen gentrifiziert wurden. Dieser Prozess geht in Hamburg aber anders von statten als beispielsweise in New York.

Die Verkaufsräume der ehemaligen Fleischerei W. Brammann in der Grindelallee stehen seit mindestens 2012 leer.

H
ingegen kann sich die Backstube der Traditionskonditorei Rönnfeld in der Hein-Hoyer-Str. bereits seit 1958 auf gerade einmal 15qm behaupten.

„Dort habe ich Gentrifizierung erlebt, weil Menschen in Viertel ziehen wollten um cool zu sein. In Hamburg ist es eher so, dass Menschen für Jobs herkamen, was die Wirtschaft schier explodieren ließ!“ Derzeit strömt die pseudorebellische Jugend aus gutbürgerlichem Elternhaus hier her, um Erwachsen zu werden. Sie findet es toll ein wenig vom verruchten Charme St. Paulis mitzunehmen. In Wahrheit tragen die Heranwachsenden die Spießigkeit ihrer Eltern her und verstehen den freiheitlichen Geist St. Paulis nicht. Die Geschichte der Stadt gerät zunehmend ins Hintertreffen.

Der drohende Verlust der Vielfalt

Nach Einschätzung der Tätowiererin wird der Hamburger Berg auch weiterhin so bestehen wie er ist. Aller- dings wird der urige Charakter und Charme, den er einmal hatte verschwinden, da eine Vielzahl der Läden von nur wenigen Personen geführt werden. Anja glaubt, dass die Vielfalt verloren gehen wird. Früher stand St. Pauli für harte Kerle, Luden und Transvestiten, Prostituierte und Türsteher. Mittlerweile wird all das nur noch kommerziell ausgeschlachtet. Ausschließlich auf Umsatz orientiert werden diese Klischees für Touristenweiter bedient.

Das Stadtbild, das St. Pauli eins ausmachte und absolut authentisch war, ist heute oft nur noch Show. Men- schen, die das Viertel charakterlich prägten, sterben langsam aus. Es wird in Zukunft keine Einzelbarbesitzer mehr geben. „Im Grunde gibt es schon heute nur noch drei oder vier Inhaber denen alle Läden und Kneipen auf dem Hamburger Berg gehören. Wenn dann Besitzer kleinerer Locations versterben, gehen auch diese in die Hände derer über, die bereits andere Geschäfte führen.“

Wirklich bunt wird es auf dem Hamburger Berg oft nur noch durch die Tätowiernadel.

„ Es wird immer schwerer sich das Leben auf St. Pauli leisten zu können!“

Durch die Verdrängung der Künstler und Freigeister auf St. Pauli wird sich dieses Viertel über kurz oder lang stark wandeln. Steigende Mieten und Wohnungsmodernisierungen locken eher snobistischen Bewohnern und gutbetuchte Unternehmer an. Diese wiederum ziehen andere Investoren und Interessenten an.
Kleine, alternativ orientierte Familien mit Kind werden sich diesen Wandel nicht mehr leisten können. Das Stadtbild wird sich hinsichtlich Grünflächen und dem aktuellen Mix aus Bürogebäuden und Wohnraum, in ein negatives Ungleichgewicht verschieben. Bald wird der einfache Arbeiter nicht mehr gemeinsam mit dem Schlipsträger am Tresen das Feierabendbier trinken.

Anja genießt die Ruhe am Morgen auf der Treppe zur Ältesten Tätowierstube Deutschlands auf dem Hamburger Berg.


Anja ist Tätowiererin und Mutter und jobbt nebenbei noch in Bars, um sich das Leben auf St. Pauli weiterhin leisten zu können. Sie sieht die Entwicklung kritisch, empfindet es aber nicht als schlecht. Stillstand funktio- niert leider nicht, egal in welchem Zusammenhang. Weiterentwicklung muss es geben. Denn es gibt stets zwei Seiten: „Der Kiez könnte gar nicht so weiter bestehen, wenn am Wochenende keine Touristen durch die Straßen strömen würden. Dann müssten Läden wie das Lunacy oder der Sorgenbrecher schließen. Diese fi- nanzieren sich zum Großteil über die Einnahmen am Wochenende. Es hat alles auch seinen positiven Effekt.“ sagt Anja abschließend.

Ronan hört gespannt zu, aber man merkt ihm an, dass er eineandere Wahrnehmung hat.

Dass man sich der Entwicklung nicht verschließen kann, sieht er auch. „Unsere Erwartung ist einfach, dass wir alles, was wir einst mochten und schätzen gerne erhalten oder zurückhaben wollen. Allerdings laufen wir jedoch durch die jüngere Generation Ge- fahr, genau dies zu verlieren. Und dem sollte man entgegenwirken.“

Hamburg hat Ronans Herz durch seine Vielfalt und Offenheit berührt.

„Die ältere Generation war immer stolz auf St. Pauli und seine Kultur. Das einzigartige Gefühl, welches einen auf den Straßen umgibt, muss unbedingt erhalten bleiben!“


Der sozioökonomische Wandel wird sich nicht aufhalten lassen. Es bleibt zu hoffen, dass die wenigen noch existierenden Traditionsläden – wie der Goldene Handschuh, Rosi ́s Bar oder der Elbschlosskeller – weiterhin neben den trendigen Szenebars bestehen können. Die Bürgerinitiative „Recht auf Stadt“ wehrt sich gegen die Gentrifizierung und Instrumentalisierung des Kiezes zur Belustigung der Touristen. Es gibt bereits für mehrere Stadtteile – auch für St. Pauli – eine sogenannte Soziale Erhaltungsverordnung. Diese dient dem Schutz der angestammten Bevölkerung vor Verkauf und Luxussanierungen durch Investoren. Nur so kann die Verdrängung der Bewohner aufgehalten und die Vielfalt gesichert werden. Zwar greift die Verordnung noch nicht hundertprozentig, aber es ist eine Möglichkeit das Milieu St. Paulis und das, wofür Hamburg berühmt und über die Grenzen hinaus bekannt ist, zu bewahren.

Tagsüber sind die Straßen des Hamburger Bergs unscheinbar und ruhig. Nur die Müllsäcke sind Zeugen der letzten Partynacht.


Text & Bilder: Mandy Privenau

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